Wann bekomme ich endlich mein Recht? Die Verfahrensdauer in Deutschland
Als langjährig tätiger Rechtsanwalt, der eine Vielzahl von Prozessen bei den Zivilgerichten, aber auch bei den Strafgerichten bearbeitet und begleitet, beschleicht mich in den letzten Jahren das Gefühl, dass die Verfahrensdauer sowohl in Zivil- als auch in Strafverfahren in einem Ausmaß zugenommen hat, dass sich der Rechtssuchende/Strafverfolgte manchmal fragen muss, ob das alles so noch mit rechten Dingen zugeht.
Schnell hat sodann der beauftragte Rechtsanwalt, der nach Meinung des Mandanten „einfach nichts tut“, die Schuld am Bein. Sicher gibt es hier auch die schwarzen Schafe unter den Kollegen, welche ihre Arbeit tatsächlich einfach liegen lassen. An dieser Stelle sei aber bereits gesagt, dass es in den seltensten Fällen am beauftragten Rechtsanwalt liegt, wenn sich Prozesse ewig in die Länge ziehen, sondern die Ursache in der Regel in der Justiz selbst und nach meiner Auffassung nahezu ebenso häufig in der rigiden Sparpolitik im Justizhaushalt der Landesregierungen zu verorten ist.
1. Wo sieht die Justiz die Ursachen für überlange Verfahrensdauern?
Aus Kreisen der Justiz erhält das Problem allerdings häufig die folgende Prägung: Man arbeite schon am Anschlag und wisse nicht mehr, wie man den Aktenbergen noch Herr werden solle, da das Arbeitspensum für den Einzelnen immer mehr zunehme. Sicher ist auch die Justiz wie die gesamte öffentliche Hand massiv von Personaleinsparungen betroffen, was dazu führt, dass Aufgaben eingesparter Kräfte von anderen Beschäftigten mitübernommen werden müssen. Betrachtet man nun die Zahlen der Justizstatistik des Bundesjustizamtes für das Jahr 2012 zu Neuzugängen und zu durchschnittlichen Verfahrensdauern vor deutschen Land- und Amtsgerichten, kann diese Argumentation eigentlich aber nur bedingt nachvollzogen werden.
Bei den Landgerichten ist im Vergleich zwischen 1998 und 2012 ein deutlicher Rückgang der Neuzugänge zu verspüren (1998: 404.496 Neuzugänge – 2012: 355.623 Neuzugänge), wobei die durchschnittliche Verfahrensdauer sich von 6,7 Monaten auf 8,3 Monate erhöht hat. Hierbei sind wohl allerdings schon diejenigen Verfahren eingerechnet, die vor dem Zivilgericht relativ zeitnah nach Klageerhebung durch Vergleich, Anerkenntnis oder etwa Klagerücknahme erledigt werden können und deren Bearbeitung damit nicht die übliche Zeitspanne bis zur Urteilsverkündung beansprucht.
Bei den Amtsgerichten ist der Rückgang der Neuzugänge (1998: 1.548,128 – 2012: 1.150.663) noch viel auffälliger, wobei sich an der durchschnittlichen Verfahrensdauer allerdings offiziell wenig geändert hat (1998: 4,6 Monate – 2012: 4,7 Monate). Nun ist auch diese Auswertung bereits fünf Jahre alt und aus meiner persönlichen Erfahrung kann ich sagen, dass ich eine Verfahrensdauer von weniger als fünf Monaten als den absoluten Optimalfall ansehe, da ein Zivilverfahren mit Beweisaufnahme in meiner subjektiven Wahrnehmung häufig erheblich länger dauert. Ich vermute deshalb, dass auch die gerichtlichen Mahnverfahren oder etwa Strafverfahren, die im Strafbefehlswege beendet werden, in die Berechnung mit einfließen, die naturgemäß nur einige Wochen bis zu wenigen Monaten in Anspruch nehmen, bis eine Entscheidung ergeht und die Instanz damit abgeschlossen ist.
Hinter mehr oder weniger vorgehaltener Hand bestätigen Justizangehörige allerdings häufig, dass die langen Verfahrensdauern der Personalpolitik der Justiz geschuldet sind, da einerseits teilweise ein hoher Krankenstand bei den Justizbeschäftigten herrscht, allerdings auch andererseits die Fluktuation auf Seiten der Abteilungsrichter immer höher wird. Teilweise bearbeitet ein junger Amtsrichter eine Zivil- oder Strafabteilung lediglich wenige Monate, bis er zu neuen Aufgaben berufen ist und die Abteilung an einen Nachfolger übergibt. Was liegt also näher, als unliebsame Verfahren, die mit Aufwand zu betreiben oder rechtlich kniffelig sind, in der Abteilung liegen zu lassen, damit sich der Nachfolger mit der Sache herumärgern kann. Diese Vorgehensweise führte dazu, dass ich einen Schmerzensgeldprozess vor dem Amtsgericht Mönchengladbach über einen Zeitraum von mehr als vier Jahren (!) in der ersten Instanz führen musste, da in dieser Zeit die Person des Abteilungsrichters viermal wechselte. Ich hatte sodann großes Verständnis dafür, dass die Mandantin, die in dieser Instanz am Ende noch mit einer fragwürdigen Begründung des Urteils unterlegen hatte, nicht noch das Berufungsverfahren durchfechten wollte.
2. Langwieriger Prozess bei klarer Rechtslage – ein Beispiel
Auch in vermeintlich glasklaren Haftungssituationen kann sich ein Prozess aber mehrere Jahre hinziehen. Die lange Verfahrensdauer kann zwar sicherlich auch ein Stück weit in der Starrsinnigkeit der gegnerischen Partei begründet liegen, die meint, alle prozessual zur Verfügung stehenden Mittel zur Verzögerung ausschöpfen zu müssen. Gerne „parken“ die Gerichte ein solches Verfahren aber auch durch ein einzuholendes Sachverständigengutachten, so auch in dem nachfolgend geschilderten Beispiel:
Unsere Mandantin hatte im April 2014 mit ihrem Pkw einen Verkehrsunfall mit einem Taxi erlitten. Der Taxifahrer bestritt, dass es zum Zusammenstoß gekommen sei, da an seinem Fahrzeug (angeblich) keine Beschädigungen festzustellen waren. Tatsächlich wurde die Beschädigung an der Beifahrerseite des Fahrzeugs unserer Mandantin mit dem linken Vorderreifen des Taxis herbeigeführt. Wir ließen außergerichtlich ein Unfallrekonstruktionsgutachten einholen, das nach einer Gegenüberstellung der Fahrzeuge zu dem Ergebnis kam, der Unfallhergang sei von unserer Mandantin plausibel dargestellt und die Schäden an ihrem Fahrzeug seien mit dieser Darstellung kompatibel.
Das Gutachten wurde von der gegnerischen Haftpflichtversicherung ohne Angabe von Gründen nicht akzeptiert, wobei man sich dort auch inhaltlich nicht mit den Feststellungen auseinandersetzte. Die Versicherung schaltete einen eigenen Sachverständigen ein, der eine erneute Gegenüberstellung der Fahrzeuge durchführte. Die Übersendung des Ergebnisses durch die Versicherung ließ sodann zunächst auf sich warten. Wie sich später herausstellte, hatte auch dieses Gutachten zum Ergebnis, dass der Anprall stattgefunden haben muss. Es wurde jedoch von der Versicherung bis in das später laufende Gerichtsverfahren zurückgehalten. Statt dessen wurde ein Abschlag auf die Schadenssumme ohne Anerkennung einer Rechtspflicht geleistet.
Da die vollständige Zahlung des Schadens ausblieb, reichten wir im August 2014 die Klage ein. Nach durchgeführter Beweisaufnahme und Zeugenvernehmung entschied das Gericht, dass ein weiteres Rekonstruktionsgutachten einzuholen sei; diesmal durch einen gerichtlich bestellten Sachverständigen. Dieser erhielt seinen Gutachtenauftrag im Mai 2015, beraumte einen Termin zur Gegenüberstellung der Fahrzeuge für den 02.10.2015 an und erstellte das Gutachten, welches den Vortrag unserer Mandantin erneut vollumfänglich bestätigte, bis zum 20.01.2016.
Die gegnerische Haftpflichtversicherung war sich im Anschluss nicht zu fein weiterhin das Ergebnis in Zweifel zu ziehen und im Anschluss Ergänzungsfragen (11.02.2016) aufzuwerfen, die im April 2016 zu einer erneuten Beauftragung des Sachverständigen durch das Gericht führte, der die Fragen in einem Ergänzungsgutachten im Juli 2016 beantwortete. Mittlerweile sind also drei (!) sehr teure Rekonstruktionsgutachten eingeholt worden, die alle zu demselben Ergebnis gelangen – nämlich, dass unsere Mandanten den vollen Schaden ersetzt verlangen kann. Ein erstinstanzliches Urteil ist dann erst im November 2016 gefällt worden, mit welchem unserer Mandantin in der Frage Recht gegeben wurde.
Mittlerweile kann ich durchaus nachvollziehen, wenn unsere Mandantin den Glauben an Justiz und Rechtsstaatlichkeit verloren hat. Hier wird die Schadensersatzzahlung von Seiten des Unfallgegners und der gegnerischen Haftpflichtversicherung (mit unbeabsichtigter Mithilfe des Gerichts) in rechtsmissbräuchlicher Weise herausgezögert, was mich zu dem Schluss gelangen lässt, dass ich im Anschluss an den Zivilprozess eine Strafanzeige wegen versuchten Prozessbetruges prüfen werde.
3. Die Verfahrensdauer im Strafprozess
Aber auch im Strafprozess sind Verfahren, die von Tatbegehung bis zur erstinstanzlichen Verurteilung mehrere Jahre in Anspruch nehmen keine Seltenheit. Die Abteilungen beim Amtsgericht und die Strafkammern beim Landgericht sind ebenfalls chronisch überlastet, obwohl die beteiligten Richter das nie so offen zugeben würden. Hinzu tritt, dass im Strafverfahren das sog. Beschleunigungsgebot in Haftsachen gilt, nach welchem die Untersuchungshaft im Regelfall nicht länger als 6 Monate andauern darf (§ 121 Abs. 1 StPO).
Auf der einen Seite wird diese Norm zwar immer weiter von der obergerichtlichen Rechtsprechung aufgeweicht, welche stets zusätzliche Ausnahmen zulässt, wann die Untersuchungshaft auch länger als 6 Monate andauern darf. In Extremfällen wurden zwar nur aufgrund der langen Verfahrensdauer auch schon einmal der ein oder andere Untersuchungshaftbefehle aufgehoben; die Regel ist das aber sicher nicht. Der Beschleunigungsgrundsatz führt aber nach wie vor grundsätzlich dazu, dass Haftsachen bevorzugt behandelt werden müssen und deshalb zeitlich vorrangig eingegangene Strafverfahren ohne eine Haftsituation zurück gestellt werden. Diese Praxis kann dazu führen, dass ein Strafprozess erst viele Monate oder sogar Jahre nach der Tatbegehung verhandelt werden kann, was dazu führt, dass sich ein Zeuge möglicherweise überhaupt nicht mehr genau an das Geschehen erinnern kann, weil es zu weit zurück liegt.
Damit wird eine effektive Wahrheitsfindung durch die Länge der Verfahrensdauer häufig negativ beeinflusst. Sollte der Rechtsstaat da nicht durch eine bessere finanzielle Ausstattung der Justiz Abhilfe schaffen?
RA Bödeker
| von RA Bastian Bödeker